Kapitel 20
Tommy, 31. Oktober 2008
Nach ihrem Treffen mit Dickerman im Präsidium sprachen Tommy und Brand kein Wort miteinander, bis sie wieder im Mercedes saßen.
»Wir müssen an seinen Computer zu Hause«, sagte Brand dann. »Das ist die einzige echte Chance, diese Kleine zu finden. Ich möchte heute einen Durchsuchungsbeschluss ausstellen. Und wir müssen sofort den Sohn vernehmen und ihn fragen, was zwischen seiner Mom und seinem Dad los war.«
»Das gibt Schlagzeilen, Jimmy. Er wird die Wahl verlieren.«
»Na und? Wir tun nur unsere Arbeit«, sagte Brand.
»Nein, verdammt noch mal«, sagte Tommy. Er verstummte und rang um Beherrschung. Brand hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet; er hatte richtiggelegen und Tommy falsch. Es gab keinen Grund, wütend auf ihn zu werden, weil er vorpreschen wollte. »Ich weiß, du denkst, das ist ein perfider, pathologischer, perverser Kerl, ein Serienkiller, der da auf seinem Thron zur Rechten Gottes sitzt, und ich versteh dich, aber denk nach. Denk nach. Wenn du Rusty den Sitz im Obersten Gericht versaust, spielst du der Verteidigung in die Hände.«
»Der Scheiß mit dem rachsüchtigen Staatsanwalt? Ich hab dir schon gesagt, wie du den widerlegen kannst.«
Er meinte die DNS, die Untersuchung der Spermaspuren aus dem ersten Prozess.
»Das machen wir als Nächstes«, sagte Tommy.
»Ich dachte, du bist gegen einen Gerichtsbeschluss.«
»Wir brauchen keinen Gerichtsbeschluss«, sagte Tommy.
Brand sah seinen Boss forschend an, dann drückte er den Startknopf des Wagens und steuerte den Mercedes in den fließenden Verkehr. Auf der Straße unweit vom Polizeipräsidium wurden gerade sechs Kinder nach dem Mittagessen von zwei Müttern zurück zur Grundschule gescheucht. Alle waren verkleidet. Zwei der kleinen Jungs trugen Anzug und Krawatte und Barack-Obama-Masken.
Das, was Tommy seinem Ersten Staatsanwalt nun erklären würde, war ihm zum ersten Mal vor zehn Jahren eingefallen. Damals war er zurück zu seiner Mutter gezogen, um sie in ihren letzten Lebensjahren zu versorgen. Ihre Geräusche - meistens der durch das Emphysem verursachte Husten - weckten ihn oft auf der Liege im Esszimmer, die ihm als Bett diente. Wenn sie sich beruhigt hatte, dachte Tommy über alles nach, was in seinem Leben falsch gelaufen war, wahrscheinlich um sich selbst einzureden, dass er fähig wäre, auch diesen Verlust zu überstehen. Er ließ die tausend Kränkungen und unverdienten Beleidigungen Revue passieren, die er ertragen hatte, und so dachte er dann und wann auch an den Prozess gegen Sabich. Er wusste, dass eine DNS-Untersuchung zur Befriedigung aller abklären würde, ob Rusty reingelegt worden war oder tatsächlich ungestraft einen Mord begangen hatte. Und er hatte es verlockend gefunden, darüber nachzudenken, wie eine solche Untersuchung veranlasst werden könnte. Doch am nächsten Tag nahm er wieder davon Abstand. Neugier war gefährlich. Adam, Eva, Äpfel und so weiter. Manche Dinge sollte man einfach nicht herausfinden. Er ließ sich den Plan noch einmal durch den Kopf gehen, dann erläuterte er ihn Brand.
Wie in den meisten Staaten gab es auch in diesem ein Gesetz, das die Erstellung einer DNS-Datenbank vorschrieb. Biologisches Beweismaterial, das im Zusammenhang mit Sexualdelikten sichergestellt worden war, musste in dieser Datenbank erfasst und aufgeschlüsselt werden. Rusty war nur wegen Mordes angeklagt worden, nicht wegen Vergewaltigung, aber die Staatsanwaltschaft hatte die Theorie vertreten, dass Carolyn möglicherweise auch vergewaltigt worden war. Daher konnte die Polizei ohne Gerichtsbeschluss oder eine andere Form der Genehmigung die Blut- und Spermaproben von Rustys erstem Prozess aus dem Kühlraum der Rechtsmedizin holen und sie morgen testen. Im wahren Leben hatten die Cops natürlich schon alle Hände voll zu tun mit den gesammelten Beweisen aktueller Fälle und keine Zeit, sich auch noch mit Fällen zu befassen, die vor zwei Jahrzehnten mit Freispruch geendet hatten. Aber das Gesetz galt nun mal und war ohne Zeitlimit anwendbar, was bedeutete, dass Rusty hinsichtlich dieser alten Proben keinen Anspruch auf Wahrung der Privatsphäre hatte. Falls die Ergebnisse ihn belasteten, konnte er im Prozess schimpfen und toben, soviel er wollte, es würde ihm nichts nützen. Zur besseren Tarnung konnte Brand den Kriminaltechnikern sagen, sie sollten alle Proben aus den Jahren vor 1988 an die Polizei übergeben, und zwar die ältesten zuerst, da die am ehesten vom Zerfall bedroht waren.
Brand war begeistert. »Wir können sofort starten«, sagte er. »Gleich morgen. Schon in ein paar Tagen könnten wir die Ergebnisse haben.« Er durchdachte die Sache noch einmal. »Das ist super«, sagte er. »Und wenn er Dreck am Stecken hat, können wir die schweren Geschütze auffahren, nicht? Durchsuchungsbeschluss für seinen Computer? Zeugenvernehmungen? Richtig? Ende der Woche können wir loslegen. Müssen wir ja, nicht? Da kann keiner mehr einen Aufstand machen. Das ist super«, sagte Brand. »Einfach super!« Er warf während der Fahrt seinen schweren Arm um Molto und schüttelte ihn.
»Jimmy, du liegst falsch«, sagte Tommy leise. »Das wäre schlecht.«
Der Erste Staatsanwalt wich zurück. Darüber hatte Tommy in der letzten Woche einige schlaflose Nächte lang nachgedacht.
»Jimmy, es gibt hier zwei Möglichkeiten. Die eine ist schlecht, die andere noch schlechter«, sagte Tommy. »Falls die DNS nicht übereinstimmt, sind wir im Eimer. Endgültig. Schluss, aus. Richtig?«
Brand betrachtete Molto mit einem Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten war, aber er schien zu wissen, dass Tommy nur ungern weitersprach.
»Es reicht nicht, Jimmy. Nicht bei der Geschichte. Ehe wir zum Labor rennen, musst du dir klarmachen, dass es um alles oder nichts geht.«
»Herrje«, sagte Brand und fing an, die gesamte Beweislage noch einmal durchzugehen, doch Tommy unterbrach ihn.
»Jimmy, du hattest von Anfang an recht. Er ist ein durchtriebener Hund. Aber falls wir praktisch beweisen, dass er den ersten Mord nicht begangen hat, können wir heute keine Anklage erheben. Dann wären wir bloß zwei rachsüchtige Arschlöcher, die eine unliebsame Wahrheit einfach nicht akzeptieren wollen. Im Gerichtssaal und davor würde sich alles nur um meine fixe Idee drehen. Dieser Fall ist papierdünn. Und falls wir auch noch einräumen müssen, dass Rusty schon einmal von derselben Behörde fälschlich beschuldigt wurde, plus die Tatsache, dass er Chefrichter am Berufungsgericht ist, für den alle außer Gott als Leumundszeugen auftreten, kriegen wir niemals einen Schuldspruch. Also müssen wir jetzt herausfinden, was die DNS ergibt. Denn wenn sie ihn im ersten Fall entlastet, dann ist hier und jetzt eindeutig Schluss.«
Brand starrte auf die Straße, wo der Verkehr dichter wurde, je näher sie der Innenstadt kamen. Ganz Kindle County war in Feierstimmung. Die Büroangestellten, die Mittagspause machten, trugen alle möglichen Kostüme. Fünf Männer, die wie unterschiedliche Mitglieder der Village People verkleidet waren, gingen mit Hamburgern in der Hand spazieren.
»Wieso sollten denn entlastende DNS-Ergebnisse überhaupt als Beweise zugelassen werden?«, fragte Brand. »Selbst wenn sie ihn in dem Fall vor zwanzig Jahren entlasten, na und? Okay, dann haben wir eben falschgelegen. Die Motive der Anklagevertretung sind irrelevant.«
»Aber nicht die des Angeklagten. Du willst einen Indizienprozess führen und behaupten, der Mann wäre das Risiko eingegangen, seine Frau abzumurksen? Denkst du etwa, er hätte nicht das Recht zu zeigen, dass er einmal wegen eines Mordes vor Gericht stand, den er nicht begangen hat? Und wird dadurch nicht höchst unwahrscheinlich, dass er zwanzig Jahre später ein solches Risiko eingeht?«
»Scheiße, dem Mistkerl trau ich alles zu. Vielleicht wird es dadurch sogar noch wahrscheinlicher. Der Mann kennt das System in- und auswendig. Vielleicht ist er so clever und denkt sich, dass wir ihm wegen des ersten Prozesses nicht mehr ans Leder können. Vielleicht rechnet er sich aus, dass ihm die DNS Rückendeckung für diesen Mord gibt.«
»Und damit hätte er recht«, sagte Tommy zu Brand. Vor einer Ampel starrten sie einander an, bis Brand schließlich wegschaute, um einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Er fluchte, weil er zu spät dran war. Molto erwog, ihm anzubieten, für den Mercedes einen Parkplatz zu suchen, aber Jim war im Augenblick zu aufgewühlt für Scherze.
»Wir beweisen ihm den ersten Mord«, sagte Brand. »Ich wette um fünfzig Mäuse, dass wir ihm die Sache beweisen.«
»Und das wäre die noch schlechtere Möglichkeit«, entgegnete Tommy. »Das Beste, was uns passieren könnte, wäre, einen Vorwand dafür zu finden, die Finger von dem Fall zu lassen. Richtig schlecht wäre, wenn sich rausstellt, dass das vor zwanzig Jahren tatsächlich Rustys Sperma war. Wenn er nämlich der Täter war, dann geht es nicht darum, ob wir den Fall heute gewinnen können. Dann müssen wir ihn gewinnen. Mit dem Wissen, dass er ein zweifacher Mörder ist, können wir nicht zulassen, dass er im Obersten Gericht sitzt. Das können wir einfach nicht.«
»Genau meine Rede. Aber das wird ja auch jeder verstehen. Dann wissen alle, dass wir keine Gespenster jagen.«
»Aber wir werden verlieren. Das ist ja das Allerschlimmste dabei. Wir haben einen Fall, den wir vor Gericht bringen müssen und den wir verlieren werden. Weil die DNS nämlich niemals als Beweis zugelassen wird, wenn wir sie vorlegen. Niemals. Das ist eine Einbahnstraße. Er wurde freigesprochen. Wir können die alten Beweise nicht mehr gegen ihn verwenden. Das wäre absurd, außer der alte Fall kommt neu vor Gericht, und das kriegen wir bei keinem Richter durch. Außerdem gab es gegen Ende des Prozesses so viele Fragen zu der Spermaprobe, dass neun von zehn Richtern sie heute ohnehin als Beweis ablehnen würden. Falls die DNS gut für Rusty ist, wird sie zugelassen. Und falls sie ihn als Mörder überführt, bleibt sie draußen. Der Fall ist und bleibt also dünn, selbst mit der DNS. Wir müssen schon die Daumen drücken, dass die Anklage nicht abgelehnt wird, weil wir zu wenig in der Hand haben, um zu beweisen, dass überhaupt ein Mord begangen wurde.«
»Nein.« Brand schüttelte heftig den Kopf auf seinem dicken Hals. »Ausgeschlossen. Du willst dich nur absichern, Boss. Das machen wir alle.«
»Nein, Jimmy. Du hast es selbst gesagt. Der Mann ist clever. Sehr clever. Falls er sie getötet hat, dann hat er alles ganz genau durchdacht. Und er hat sich überlegt, wie er es machen kann und wieder ungeschoren davonkommt. Und das wird er.«
Sie waren am Gericht angekommen. Endlich sah Brand Tommy an und sagte: »Das wäre wirklich schlecht.«
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008